Langsam-Fernsehen fördert die Gemeinschaft

Die Digitalisierung der Gesellschaft hat viele Bereiche unseres Lebens stark verändert, zum Beispiel auch unsere Lese- und Sehgewohnheiten.

Die Informationsfülle des Internets zwingt uns dazu, Texte rasch aufzunehmen und daher überfliegen wir sie im Browser – oder auch unsere täglichen Mails – zuerst einmal und „skimmen“ sie, um damit herauszufinden, ob die Informationen wichtig sind oder nicht.

Artikel in Tageszeitungen von heute kommen diesen geänderten Gewohnheiten entgegen und weisen deswegen einfachere Satzkonstruktion als jene vor 30, 40 Jahren auf und sind insgesamt leichter und schneller zu konsumieren. Und in den Schulen versuchen wir, diesen geänderten Gewohnheiten Rechnung zu tragen, indem wir lange und komplexe Texte nur mehr selten einsetzen. Fernsehen und Film haben sich an das rasante Tempo der Digitalisierung angepasst und konfrontieren uns heute nicht mehr mit langen Szenen und statischen Kameraeinstellungen, sondern mit rasend schnellen Schnitten.

Der norwegische TV-Produzent Thomas Hellum bewegt sich mit seinem „Slow-TV“-Projekt gegen diesen Trend in eine total andere Richtung und zeigte beispielsweise ungeschnitten und unkommentiert – in Echtzeit – eine Zugfahrt von Bergen nach Oslo, entlang an Seen, durch Täler und Tunnels und über Brücken.

Und das faszinierte rund eineinhalb Millionen Norwegerinnen und Norweger sehr und lockte sie begeistert stundenlang vor den Bildschirm. Was besonders bemerkenswert ist das auch, wenn man weiß, dass das Land lediglich fünf Millionen Einwohner hat!

Andere Projekte des rührigen Produzenten zeigten z. B. 13 Stunden lang den nationalen norwegischen Strickwettbewerb am Bildschirm oder – was das Publikum besonders gut annahm – 134 Stunden lang die Fahrt eines Hurtigrutenschiffes von Bergen nach Kirkenes und zurück.

Bei diesem Unternehmen verfolgten die Zuschauer nicht nur am TV das Programm, sondern begrüßten das Schiff mit dem Kamerateam von anderen Schiffen und vom Ufer aus – und konnten über Facebook und Twitter darüber mit anderen diskutieren und sich aktiv einbringen.

Das Phänomen „Slow-TV“ ist in dem skandinavischen Land ein enormer Erfolg, obwohl – oder gerade weil – nicht viel geschieht. Aber, meint Hellum schnippisch, man kann eben nie wissen, was sich in der nächsten Stunde denn wirklich ereignen mag.

In Zeiten von aufwändig gedrehten Fernsehserien wie „House of Cards“ oder „Mad Men“ mag der gewaltige Erfolg dieser simplen norwegischen Idee verblüffen. Und gewiss denken bereits Fernsehverantwortliche in anderen Ländern darüber nach, ob sich so ein Projekt auch außerhalb von Skandinavien rentieren würde. In seiner pointierten Präsentation auf Ted.com ist Hellum jedenfalls überzeugt, dass man damit auch anderswo Erfolg haben wird, denn „die Norwegerinnen und Norweger sind nicht dümmer oder verrückter als die Menschen anderswo“.

Als meine Tochter ein knappes Jahr alt war, faszinierte sie die Waschmaschine sehr und zu unserem Erstaunen erkor sie für eine Weile den Platz vor dem Bullauge zu ihrem Lieblingsplatz, von dem aus sie – wann immer das Gerät lief – die monotonen Bewegungen der Trommel begeistert verfolgen konnte. Wer weiß, vielleicht nimmt Produzent Hellum eines Tages auch diese Idee auf und macht daraus in Norwegen ein weiteres erfolgreiches Programm?

 

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