Eine Freundin, die in der Pharmaindustrie beschäftigt ist, rief mich vor sieben, acht Jahren an einem Abend an und schilderte mir ihr Leid. Sie sei ratlos, meinte sie, denn ihr Sohn versuche gerade zum zweiten Mal die erste Klasse einer berufsbildenden mittleren Schule zu meistern, sei aber in einigen Fächern wieder negativ. Und daher denke sie nun daran, ihm zu helfen und ihm Ritalin zu verabreichen, meinte die Pharmakologin. Denn ihrer Meinung nach sei Max zwar gescheit, doch könne er sich nicht konzentrieren, sei hyperaktiv – wie sie selber auch – und brauche daher dringend dieses Medikament, um sich seine Zukunft nicht zu verbauen.
Leider aber sei Max’ Vater, bei dem der gemeinsame Sohn lebte, gegen das Medikament und ich solle ihn doch als „Fachmann“ (weil BMHS-Lehrer) versuchen umzustimmen. Meine Antwort gefiel ihr jedoch ganz und gar nicht, denn ich erklärte ihr, dass Max meiner Meinung nach ein wirklich durchschnittlicher Jugendlicher sei, der sich mit 16 für vollkommen andere Dinge als die Schule interessiere. Was leider typisch für viele in dem Alter sei, ergänzte ich noch und sagte: „Wenn wir alle Jugendlichen, die im Alter von 15 oder 16 nicht mehr gerne in die Schule gehen, medikamentös behandeln würden, müssten wir damit fast eine ganze Generation unter Drogen setzen, damit sie in der Schule brav ihre Leistung so erbringen, wie es sich die Eltern vorstellen.“
Was folgte, war ein heftiger Streit übers Telefon mit dem Ergebnis, dass wir nicht mehr befreundet sind, dass aber Max kein Ritalin verabreicht wurde und er seine Schule in fünf qualvollen Jahren doch noch abschließen konnte.
Eine Erfolgsgeschichte – für die Pharmaindustrie!
Das Medikament Ritalin bzw. „Methylphenidat“, wie der Wirkstoff heißt, nannte die Deutsche Apotheker Zeitung vor kurzem einen „Goldesel für die Pharmaindustrie“. Denn seit 1993, als in Deutschland nur 34 Kilogramm verkauft wurden, hat sich der Verkauf vervielfacht. 1999 wurden nur 242kg der Substanz verschrieben, doch bis 2010 war der Verbrauch des Medikaments[1], das Gerald Hüther als die „Droge für die Pflichterfüller-Generation“ bezeichnet, auf sage und schreibe 1,8 Tonnen angestiegen! Auf dieser Menge stagniert seitdem der Umsatz.
Heute wissen wir: Wenn ein Arzt feststellt, dass ein Kind an ADHS bzw. dem „Zappelphilipp-Syndrom[2]“ leidet, vergibt er damit eine umstrittene Diagnose, die Kritiker gerne eine „Modediagnose“ nennen. Denn oft geht diese einher mit der Verschreibung von Ritalin, wie die Barmer GEK Krankenkassa feststellte. Doch sollte, meinen inzwischen selbst namhafte Fachleute (vgl. den Arztreport 2013), vor allem untersucht werden, ob nicht auch die Eltern eines aufmerksamkeitsgestörten Kindes Beratung oder Unterstützung brauchen.
Aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie
Zu diesem Thema erschien Ende 2013 das berührende Werk der Autorin Anonyma „Plötzlich ein Sorgenkind“, in dem eine Journalistin, die nicht erkannt werden will, über die lange und intensive Leidensgeschichte ihrer Familie schreibt. Diese beginnt damit, dass ihre sechsjährige Tochter aus der Schule kommt und der Mutter erklärt, dass ihr Leben „scheiße“ sei und sie „nicht mehr leben“ will.
Lenja ist ein kreatives und intelligentes Kind, doch bereits nach wenigen Monaten will sie nicht mehr in die Volksschule gehen, weil sie dort aufgrund ihrer Langsamkeit und Unfähigkeit, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, massiv gemobbt wird. Und lässt damit vor allem ihre Mutter ratlos zurück, denn diese sieht den gesamten Lebensplan, den die Eltern für ihre Tochter entworfen haben, gefährdet.
Aber nicht nur das „Versagen“ des Kindes schockiert sie, auch dass sie als Mutter, als Teil eines „Akademiker-Doppelverdienerhaushalts“ es nicht schafft, ihre Tochter zu einem „gut funktionierenden“ Kind zu erziehen, trifft sie sehr!
Dem Mädchen gelingt es nicht, sich in der Schule zu konzentrieren, und daher wird sie zum Opfer der anderen Kinder und auch – so die Mutter – des modernen, doch für das Kind nicht geeigneten Unterrichtstils der Lehrerin. Tochter und Mutter gehen von einem Spezialisten zum anderen, um den Grund für das Leiden des Kindes zu finden. An einem Klinikum checkt eine Schar von Spezialisten Lenja durch und stellt all jene Symptome[3] fest, die zwangsläufig zu einer Ritalinbehandlung führen. Denn Lenja ist häufig unaufmerksam gegenüber Details, kann ihre Aufmerksamkeit nicht lange aufrecht erhalten und den Erklärungen ihrer Lehrerin nicht folgen, lässt sich von äußeren Stimuli zu sehr ablenken und vergisst viel. Lenja Mutter will aber ihr Kind nicht mit der Droge ruhig stellen, weiß von den Bemühungen des Neurobiologen Gerald Hüther, mit dem sie Kontakt aufnimmt, und versucht, andere Wege zu finden, um ihrem Mädchen zu helfen.
Wie schnell die Diagnose ADHS inzwischen ausgesprochen wird, belegt der Arztreport 2013, denn jeder achte Bub – und jedes 22. Mädchen – erhielt in Deutschland im Jahr 2011 die Diagnose ADHS! Die Barmer GEK betont im „Arztreport 2013, Generation ADHS: Pillen und was noch?“, dass sich jedoch eine Menge Diagnosen bei genauerer Überprüfung als falsch oder voreilig erweisen. Die vorliegenden Zahlen legen den Schluss nahe, dass „auf diesem Feld viel Überdiagnostik und -medikation herrscht[4].“
Anonyma hat das Buch ihren beiden Kindern und ihrem Mann gewidmet hat, die sie „liebt, auch wenn es sich im Folgenden nicht immer so anhört.“ Die Autorin reflektiert darin verzweifelt über ihre Situation und versucht sie für sich – und uns – im Detail zu beschreiben, um vielleicht so auf die Ursachen für das Problem ihrer Tochter – und ihrer Familie – zu kommen.
Joel Nigg[5], Professor für Psychiatrie an der Oregon Health and Science University, betrachtet ADHS ähnlich wie Gerald Hüther und weist daraufhin, dass früher Kinder, die nicht stillsitzen konnten, in der Schule bestraft wurden.
„Heute hingegen nehmen wir an, dass diese Kinder medizinische Hilfe und eine Therapie brauchen. Wenn Leute nicht ins System passen, dann reagieren wir, indem wir dem Verhalten ein Label verpassen und es entweder medizinisch behandeln wollen, es kriminalisieren oder als moralisch verwerflich betrachten. (…) Dabei spielen hier doch öfter soziologische Faktoren eine Rolle: die Art, wie Kinder heute beschult werden, die Art, wie wir mit unseren Kindern umgehen und was wir von ihnen erwarten!“
Auch „Anonyma“ kämpft mit sich hart und versucht, das Problem ihrer Lenja auch als systemisches Problem zu sehen, nimmt sich mehr Zeit für ihre Kinder, arbeitet an sich, will selber nicht mehr länger „perfekt“ sein und gewinnt so neue Einsichten – und gemeinsam mit ihrer Tochter mehr Lebensfreude.
Gegen Ende des Buches erfahren wir, dass Lenja gar nicht an ADHS leidet, sondern an einer seltenen Krankheit mit dem Namen „Handlungsdyspraxie“, die auch als „Syndrom des ungeschickten Kindes“ bezeichnet wird[6]. Ob jedoch Lenjas Wechsel in eine weiterführende Privatschule, die besonders für soziales Lernen und gegen Mobbing auftritt, eine Empfehlung für andere Betroffene sein kann, bleibt wohl fraglich.
Das Buch
Anonyma; Plötzlich ein Sorgenkind. Aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie; München; Verlag: dva; 2013; ISBN-13: 978-3-421-04574-4
Interessant für
Allgemein, Psychologie, Pädagogik
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[1] Quelle: www.lehrerfreund.de/schule/1s/methylphenidat-verbrauch-deutschland-1993-2011/4229 abgerufen am 25. 5. 2014
[2] Quelle: www.sueddeutsche.de/thema/ADHS abgerufen am 25. 5. 2014
[3] Quelle: http://presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Archiv/2013/130129-Arztreport-2013/PDF-digitale-Pressemappe,property=Data.pdf abgerufen am 25. 5. 2014
[4] Quelle: www.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Versicherte/Rundum-gutversichert/Infothek/Wissenschaft-Forschung/Statements-Vorstand/Forschung-ADHS.pdf abgerufen am 25. 5. 2014
[5] Quelle: www.nytimes.com/2013/10/20/magazine/the-not-so-hidden-cause-behind-the-adhd-epidemic.html?smid=tw-nytimes&_r=3& abgerufen am 25. 5. 2014
[6] Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Dyspraxie abgerufen am 25. 5. 2014