Verrät das Bildungssystem unsere Kinder?

„Lernfabriken, Bildungskatastrophe, Verrat an unseren Kindern, Lernen im Gleichschritt, Bulimie-Lernen, pädagogische Verantwortungslosigkeit“: mit starken Worten kritisiert der Philosoph Richard David Precht in seinem neuen Buch Deutschlands (und wohl auch Österreichs) Bildungslandschaft und lässt kaum ein gutes Haar an ihr. Denn Schule assoziiert er vor allem mit „Stillsitzen, 45-Minuten-Taktung, Notenstress und Stoffhuberei[1]“ und mit Lehrerinnen und Lehrern, die überfordert sind und den falschen Beruf ergriffen haben. Daher sei es hoch an der Zeit, eine „Bildungsrevolution“ in Gang zu setzen, da eine Reform viel zu wenig weit greifen würde.

Falls Sie, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, sich nun aufgrund der harschen Worte in der Einleitung denken, dass Sie dieses Buch vielleicht doch nicht interessiert, wollen wir Sie dennoch ermuntern, nicht gleich aufzugeben und ein wenig weiterzulesen.

„Anna, die Schule und der liebe Gott“ ist trotz deftiger Systemkritik ein interessantes, mit leichter Hand geschriebenes Buch. Denn schließlich handelt es sich bei Precht um einen belesenen Mann, der sein Wissen hervorragend vermitteln – und Bücher gut verkaufen – kann. Und so lernen wir z.B. in der ersten Buchhälfte viel Wissenswertes über die historischen Ursachen der heutigen Bildungsmisere.

Bildung oder Ausbildung?

Einleitend definiert Precht den Begriff „Bildung“, indem er ihn ausführlich historisch umreißt und von der gängigen Vorstellung trennt, dass z.B. jenes Faktenwissen, das in TV-Shows gefragt ist, mit „Bildung“ gleichzusetzen sei. Er beruft sich ausführlich auf Wilhelm von Humboldt und dessen aufgeklärte Vorstellung von Bildung, die besagt, dass zuerst einmal die Persönlichkeit geformt werden und reifen soll und erst nach der „allgemeinen Menschenbildung“ die spezifische Berufsausbildung erfolgen darf. Und zwar mit dem Ziel, mündige Bürger heranzubilden, die aktiv am öffentlichen Leben[2] teilnehmen.

Der Reformer Humboldt bescherte uns jedoch nicht nur Gutes, räumt Precht ein. So wurde aus seiner bemerkenswerten Absicht, eine allgemeine Bürgerschule zu schaffen, in Wirklichkeit eine Schule für die Sprösslinge der Oberschicht, und zwar das Gymnasium. Und wegen Humboldts persönlicher Vorliebe für antike Sprachen, so Precht, müssen sich noch heute Jugendliche viel zu intensiv mit Dingen wie Latein und Griechisch befassen und leiden unter dem kopflastigen humanistischen Bildungsideal.

Denn „wissen, was Humanität ist, und diese zu leben, sind zwei verschiedene Dinge[3]“, schreibt er. Moderne Bildung muss jedoch vor allem „lebendiges Wissen“ sein, gepaart mit hoher sozialer Kompetenz, und nicht totes Faktenwissen. Das Gymnasium in seiner heutigen Form kritisiert Precht als exklusiven Ort, an dem vor allem die Kinder der Bildungsbürger/innen gut abgeschottet vom Rest der Bevölkerung eine vorteilshafte Startposition ins Leben erwerben sollen.

Prechts Vorstellung einer „Bildungsrevolution“ verlangt nach vollkommen anderen Lehrerinnen und Lehrern. Und zwar solchen, die die entsprechenden Anlagen zum Lehrberuf mitbringen und ihr Studium erst nach einer Eignungsüberprüfung à la Finnland antreten dürfen. Lehrer/innen müssen Kinder lieben und Persönlichkeiten sein, denen man gerne zuhört.

 

Lehrer/innen als Künstler/innen

„Gute Lehrer sind Artisten im Sozialen“, die gemeinsam mit den Schülern versuchen sollten, ein Kunststück zu erschaffen, postuliert der Autor und legt die Latte für den Lehrberuf sehr hoch, denn es handle sich dabei um einen künstlerischen Beruf, den nicht jede/r erlernen kann[4]. Lehrer/innen müssen dazu fähig sein, ihre Schüler/innen zu begeistern und zu motivieren und so ihr Potenzial zu entfalten.

Besonders kritisch betrachtet Precht den in den letzten Jahren immer massiver werdenden „Messbarkeitswahn“. Er bezweifelt jegliche Aussagekraft und Sinnhaftigkeit von Testverfahren wie der PISA-Studie, lässt sich doch „Bildung weder messen noch normieren[5]!“

PISA würde dazu führen, dass die beiden Begriffe Effizienz und Kompetenz den Wert von Bildung und Wissen in den Hintergrund gedrängt hätten. Mit dem fatalen Ergebnis, dass vielerorts der Druck auf die Schülerinnen und Schüler durch noch mehr Lernstoff gestiegen sei. Und wie Gerald Hüther verlangt auch Precht, dass die schulischen Lerninhalte massiv eingeschränkt gehören, da vom traditionell gelehrten Faktenwissen ein paar Jahre nach Schulende ohnehin kaum etwas übrig sei.

 

Neue Medien ignorieren oder einsetzen?

Während der Hirnforscher Manfred Spitzer davor warnt, dass Smartphones, PC usw. zur „digitalen Demenz“ führen würden, ist Precht allerdings davon überzeugt, dass der Einsatz von Lernsoftware von großem Vorteil sei. Er verweist auf Benjamin Blooms[6]„Mastery-Learning-Modell“ und betont, dass es darum gehe, individualisiert zu lernen, in den Wettbewerb mit sich selbst[7] einzutreten und als Maßstab nur das eigene Können gelten zu lassen. Als Beispiele für den Erfolg des „Mastery Learning“ führt Precht die Khan-Academy und das „Hole-in-the-Wall-Experiment“ von Sugata Mitra an.

„Anna, die Schule und der liebe Gott“ ist ein Buch, das aus der Sorge heraus geschrieben wurde, dass es hoch an der Zeit ist, die Schulsysteme im deutschen Sprachgebiet grundlegend zu verändern. Nicht nur wegen unserer Kinder, die sich in der Schule mit so viel traditionellem Ballast herumplagen müssen, sondern auch aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Denn Precht ist davon überzeugt, dass unsere wichtigsten Ressourcen für die Zukunft kreative Menschen sein werden, die im Humboldtschen Sinn gebildet sind und über analytisches Denkvermögen verfügen.

Deutschlands omnipräsenter Vorzeigephilosoph hat mit „Anna, die Schule und der liebe Gott“ seinen Beitrag zur aktuellen Bildungsdiskussion abgegeben. Er kann sein Wissen wunderbar in Worte packen und überzeugend argumentieren, sodass man liest und liest und sich immer wieder beim Kopfnicken ertappt. Als Leser/in muss man nicht allem zustimmen, was Precht schreibt und auch nicht seine überaus pessimistische Grundstimmung teilen. Trotzdem ist die Lektüre dieses Buch absolut empfehlenswert!

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Das Buch
Precht, David Richard; Anna, die Schule und der liebe Gott: der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. München: Goldmann, 2013, ISBN 978-3-442-31261-0

Interessant für:
Allgemein, Pädagogik, Psychologie

 


[1] Precht, Richard David: Anna, die Schule und der liebe Gott: der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. München: Goldmann, 2013. Seite 192

[2] Seite 34

[3] Seite 46

[4] S. 140

[5] S. 93

[7] S. 234