Ein bahnbrechendes bayrisches Experiment

annefrank
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anne-Frank-Realschule_Muenchen_-_3.JPG

Im Münchner Stadtteil Pasing befindet sich die Anne-Frank-Realschule. 72 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten dort rund 700 Mädchen, 80% davon haben Migrationshintergrund.

Das Gebäude ist ein Schulbau, der genau so aussieht, wie man Schulen in den fünfziger und sechziger Jahren gebaut hat: funktionell, doch billig und lieblos. Offenbar hat die wohlhabende Stadt München seit dieser Zeit auch kaum in die Erhaltung investiert, denn aus der Nähe betrachtet bietet die Bausubstanz einen ziemlich heruntergekommenen und recht tristen Eindruck.

Nichtsdestotrotz handelt es sich bei dieser Schule aber um eine Vorzeigeschule.

Denn vor fünf Jahren beschlossen die innovative Schulleiterin und ihr Team, die jahrzehntelang gepflegten und mehr schlecht als recht funktionierenden Traditionen über Bord zu werfen und als städtische Realschule einen vollkommenen Neubeginn zu wagen.

Weil die so genannte Nachmittagsbetreuung wenig erfolgreich und sinnvoll erschien, entschieden sich die Pädagoginnen und Pädagogen im Jahr 2011 ihre Schule fortan als Ganztagsschule zu führen. Nur die Eltern der Jugendlichen einer einzigen Klasse lehnten dies ab, alle anderen stimmten jedoch zu und unterstützten das ambitionierte Vorhaben der Direktorin, Frau Espermüller-Jug. Die wollte nicht nur eine traditionelle Ganztagsschule eröffnen, sondern ihre Schule auch pädagogisch vollkommen neu orientieren.

Die Stadt München unterstützte die Initiative lediglich mit einigen Mehrstunden für die Lehrerinnen und Lehrer, nicht aber mit Geld, um damit im Zuge der Neustrukturierung eine bessere Infrastruktur zu schaffen. Trotzdem gelang es der engagierten Direktorin, gemeinsam mit ihrem Team etwas pädagogisch Neues und Wertvolles zu schaffen, das inzwischen mit mehreren Preisen, darunter auch dem hochdotierten „Deutschen Schulpreis“, bedacht wurde und nicht nur in Deutschland ohne Konkurrenz dasteht.

Ein besonderes Anliegen, das betonte die Schulleiterin im Rahmen einer Führung, ist es dem Kollegium, das Selbstwertgefühl der Mädchen zu stärken und sie erleben zu lassen, dass Naturwissenschaft und Technik interessant sind und Freude machen können

Worin liegt aber nun der besonders innovative Ansatz der Schule? Die Schülerinnen sind schwerpunktmäßig in drei „Häusern“ organisiert, entweder im naturwissenschaftlichen, im sprachlichen oder im sozialen Haus. Natürlich gibt es an der Schule auch „normalen“ Unterricht, doch legt man besonderen Wert auf projektorientiertes, kooperatives und eigenverantwortliches Handeln.

Jede Schülerin führt daher ein Logbuch, das eigens für die Schule gedruckt wird und in das sie Woche für Woche stichwortartig ihre Lernerfahrungen einträgt und wie es ihr mit neuen Inhalten etc. ergangen ist. Dazu kommentieren die Lehrerinnen und Lehrer regelmäßig die Einträge und besprechen die Logbücher wöchentlich mit den Schülerinnen.

Auch die Eltern sind angehalten, wenigstens ein bis zweimal pro Monat die Fortschritte ihrer Töchter zu kommentieren und per Unterschrift zu bestätigen. Zur positiven Verstärkung gibt es im Logbuch die „Lobecke“, in die Mitschülerinnen und/oder Lehrerinnen und Lehrer positive Rückmeldungen eintragen können.

Ein weiterer innovativer Ansatz der Schule sind die so genannten „Lernbüros“, die zwar von einem Pädagogen bzw. einer Pädagogin – als Teil der Unterrichtsverpflichtung – beaufsichtigt werden, in denen aber die Schülerinnen frei und Jahrgangsstufen übergreifend arbeiten müssen.

Während des Lernbüros herrscht absolutes Sprechverbot – und weiß eine Schülerin nicht mehr weiter, schreibt sie ihren Namen und die Frage auf die Tafel und wartet auf Beistand. Dadurch, dass die Anne-Frank-Schule ihre Schülerinnen zu Tutorinnen ausbildet, können die Mädchen so ihre sozialen Kompetenzen in der Praxis erproben und andere aktiv unterstützen. Die erwachsenen Betreuer/innen in den Lernbüros greifen nämlich erst ein, wenn sich die Schülerinnen selber nicht mehr helfen können.

Darüber hinaus gibt es für die Mädchen keine Hausaufgaben mehr, weil sie sämtliche Arbeiten in der Schule erledigen und zuhause Zeit für andere Dinge haben. Seit einigen Jahren hat – anders als zuvor – niemand mehr die Realschule negativ abgeschlossen und die Mädchen besuchen die Schule gerne und regelmäßig. Der Erfolg gibt also der innovativen Schulleiterin und ihrem Team recht.

Alles in allem ist diese Schule ein schöner Beleg dafür, dass an einer Schule trotz knapper Mittel pädagogische Reformen zum Wohl der Kinder und Jugendlichen umsetzbar sind – wenn alle Schulpartner den Willen und die Ausdauer haben, einige Jahre daran intensiv zu arbeiten!

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  • Gesellschaft, Kunst und Kultur; Wirtschaft; Religion;

 

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