Auffällige Schülerinnen und Schüler?

Wenn man unter Kolleginnen und Kollegen das Thema auffällige Schülerinnen und Schüler anschneidet, würden einige lieber über etwas anderes sprechen und sich gerne jeden – persönlichen – Kommentars enthalten.

„Natürlich sind manche Jugendliche an unserer Schule eine große Herausforderung – aber doch nicht bei mir…“ Nicht selten gibt es nämlich an Schulen ein stillschweigendes Übereinkommen, disziplinäre Probleme im Klassenzimmer bei Konferenzen nicht zu thematisieren und eher so zu tun, als existierten sie nicht. Denn spricht jemand im Konferenzzimmer immer wieder über seine Schwierigkeiten mit dem einen Schüler oder der anderen Schülerin, gibt er sich damit quasi eine Blöße, vermittelt er doch anscheinend dem Kollegium, nichts von gutem „classroom management” zu verstehen.

Die beiden Pädagogen Barbara Meyer und Tobias Tretter sowie die Schulpsychologin Uta Englisch haben erkannt, dass dieses weite Thema es wert ist, sich eingehender damit zu befassen, und deswegen den vor kurzem erschienenen Band „Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen“ bei Beltz herausgegeben.

Viel Wissenswertes können wir darin finden! Die Autoren definieren z. B. den Begriff „Auffälligkeit”, nennen zahlreiche mögliche Formen und Ursachen dafür und bieten konkrete Hilfen an, wie man Probleme erkennt und in der Schule gut darauf reagieren kann. Besonders hilfreich scheint die „Sechs-Schritt-Technik“, um auffälligen Kindern und Jugendlichen – und letztlich auch sich selber – mittels strukturiertem Vorgehen aus einer schwierigen Phase herauszuhelfen.

Meist ist ja der Umgang mit auffälligen Schülerinnen und Schülern kein Thema in der Ausbildung und so muss in der Praxis jeder für sich – oft mehr schlecht als recht, wenn ich an meine Erfahrungen denke – die ersten heftigen Probleme alleine im Klassenzimmer bewältigen. Denn kaum jemand hat an der Hochschule das nötige Rüstzeug dafür mitbekommen. Wenn es dann im Klassenzimmer einmal „brennt“, überkommt einen ein mächtiges Gefühl der Hilflosigkeit. (Wie hilfreich wäre doch ein solcher Praxisleitfaden nach meinen ersten fünf Jahren gewesen, als plötzlich drei Schüler in einer neuen Klasse ungeahnte und bis dahin noch nie erlebte Probleme verursachten und die Vehemenz der Aggressionen nicht nur die betroffenen Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch den Direktor deutlich überforderten!)

Der bayrische „Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen” ist ein sehr sinnvolles Werk geworden, dessen Inhalte unbedingt in die Curricula der Aus- und Fortbildung integriert werden sollten. Und wer im Rahmen seiner Ausbildung und Fortbildungen leider keine praktischen Strategien über den Umgang mit Menschen in problematischen Lebensphasen erlernen durfte, kann ja nun dieses Buch erwerben und von der Lektüre profitieren!

Ein zusätzliches schönes Angebot des Autorenteams ist, dass wir von der Verlagswebsite ein umfangreiches PDF mit Materialien zum Buch gratis herunterladen können. Nicht verschwiegen werden sollte jedoch, dass am vorliegenden Werk befremdet, dass „Inklusion“ und „auffälliges Verhalten“ sowohl am Buchdeckel als auch in der Einleitung zum Buch gleichgesetzt werden, und zwar so, als bedeute die Einführung der Inklusion auch drastisch eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen für uns Lehrerinnen und Lehrer. Doch gab es problematische Kinder und Jugendliche nicht schon lange vor der Prägung des Begriffs „Inklusion“?

 

Das Buch

  • Meyer, Barbara, Tretter, Tobias und Englisch, Uta; Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen; Beltz, 2015; ISBN:978-3-407-62943-2

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