„Zwar bin ich gescheiter als all die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
(…) Dafür ist mir auch alle Freud entrissen,
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.“
(Goethe, Faust I)
Die Reifeprüfung an einer höheren Schule heißt in Österreich und in Teilen der Schweiz Matura[1] und berechtigt den erfolgreichen Absolventen u.a., sich für ein Studium an einer Hochschule zu immatrikulieren.
Doch belegt das auch, dass eine Person mit einem Maturazeugnis in der Hand menschlich reifer ist als jemand, der darüber nicht verfügt? Und warum beklagt Goethes sinnsuchender Faust trotz Studiums der Philosophie, der Juristerei, der Medizin „und leider auch der Theologie“, dass er nach all seinem „heißen Bemühen“ nun „so klug als wie zuvor“ dastehe? Schließlich verfügt Heinrich Faust über enorm viel Wissen – doch ist er damit „klüger“ im Sinne von reifer geworden?
Mit diesem Thema befasste sich Boglarka Hadinger[2] in einem Vortrag im Rahmen der Sommerhochschule der PH Tirol. Ihr bemerkenswerter Vortrag vor rund 150 interessierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern hieß: „Reife – oder was uns in eine gute Zukunft führt“.
Die Therapeutin bezeichnete in ihrer Einleitung Reife als einen „inneren Zustand und keine auswendig zu lernende Technik oder Kommunikationsform“. Ob jemand reif ist oder nicht, kann man zwar spüren und erleben – aber gewiss nicht mit Zeugnissen belegen. Ein reifer Mensch strebt zum Beispiel definitiv nicht nach materiellen Gütern, um damit sein Selbstwertgefühl zu erhöhen. Auch Geld und Karriere sind keine Kriterien für menschliche Reife!
Frau Hadinger ist überzeugt, dass „die Anlage, reif denken und handeln zu können, in jedem Menschen – unabhängig vom Lebensalter und der Lebenssituation – angelegt ist“ – nur muss sich ein Individuum auf seinen Weg machen und die Reife anstreben.
Welche Faktoren einen zum reifen Menschen machen, definiert die Therapeutin über mehrere Kriterien, die im Folgenden kurz angerissen werden sollen. Menschliche Reife, betont sie, hat jedoch nichts mit Wissen und Können zu tun bzw. mit kognitiver, sozialer oder emotionaler Intelligenz, denn sehr kluge und gebildete Menschen sind nicht immer reifer als andere.
Sie verwies in diesem Zusammenhang auf Nazi-Größen wie Hitler und Goebbels, deren Denken und Handeln geprägt war vom massiven Ungleichgewicht zwischen ihrer Intelligenz und ihren Fähigkeiten einerseits und ihrem Reifeniveau andererseits. Was ist es also, das die Reife eines Menschen ausmacht, das ihn oder sie als weisen Menschen kennzeichnet?
Woran erkennt man reife Menschen?
An folgenden Merkmalen, postuliert Hadinger, können wir einen reifen Menschen festmachen: Ein solcher hat sich z.B. intensiv mit sich selbst und seinen persönlichen Schwächen auseinandergesetzt (an seinen „Rucksack-Themen“) und an ihnen gearbeitet, um sie abzumildern. Mit dem positiven Effekt, dass man – wenn man sich intensiv mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten beschäftigt hat – milder mit den unvollkommenen Seiten der anderen umgeht.
Weiters betonte Dr. Hadinger, dass es unverzichtbar sei, sich mit seinen eigenen Ressourcen zu beschäftigen. Die meisten Menschen beginnen damit etwa ab 40 und erkennen erst als Erwachsene ihre besten Anlagen. Negiert man diese Gelegenheit zur persönlichen Weiterentwicklung, können permanente Übellaunigkeit, Unzufriedenheit oder Depressionen die Folge sein.
„Wir wirken nicht nur dadurch, was wir tun, sondern auch dadurch, was wir unterlassen,“ meinte Viktor Frankl einmal.
Es ist demnach ein weiterer eindeutiger Beleg für Reife, wenn jemand in einer Situation, in der er/sie auch anders handeln könnte, bewusst nichts sagt oder tut und sich in Zurückhaltung übt.
Reif ist ein Mensch aber auch, wenn er/sie achtsam und fürsorglich mit seiner beseelten und unbeseelten Umwelt umgeht. Ein cholerischer Vorgesetzter, der zwar über diverse akademischen Grade usw. verfügt, jedoch seine Mitarbeiter/innen immer wieder anbrüllt, herabsetzt und bloßstellt, wäre in diesem Zusammenhang ein klares Beispiel für Unreife.
Sich den Aufgaben des Lebens zu stellen ist noch ein Kennzeichen von Reife. Gemeint ist damit z.B., anders als der Zeitgeist es von uns verlangt, in Würde alt zu werden, und zwar gelassen, weise und wohlwollend zu sein und nicht der Umwelt mit aller Gewalt vorzugaukeln, wie wettbewerbsfähig und jung wir heute als Alte noch sind.
Ein klares Merkmal der Maturität eines Menschen ist außerdem seine Liebe zur Weisheit und die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der vorhergehenden Generationen – denn diese stärken uns, wenn wir uns darauf einlassen können. Erkenntnisse von klugen Menschen, die vor uns gelebt haben, sind verdichtete Lebenserfahrungen und haben oft fast magische Kraft, weiß Frau Hadinger.
Wenn wir also nun zum ersten Absatz dieses Artikels zurückkehren und Dr. Hadingers Erkenntnisse in Verbindung zur Matura bringen, sehen wir, dass wir – fachbezogen – in unseren prall gefüllten Curricula zwar viele sinnvolle Kompetenzen und viel Wissen vermitteln wollen, dass wir aber die jungen Menschen während ihrer Schulzeit eher nur nebenbei darin unterstützen, die Anlagen für eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln.
Wie schön wäre es jedoch, den Jugendlichen in der Schule zu einem guten Selbstwertgefühl zu verhelfen und ihnen Wege und Möglichkeiten aufzuzeigen, um in der heutigen „Hektomatik-Welt“ besser bestehen zu können. Denn eines, so Hadinger, sollten wir nicht vergessen:
„Die Kinder von heute sind die Machthaber und Gesetzgeber von morgen“!
Interessant für
Allgemein, Psychologie, Pädagogik, Persönlichkeitsentwicklung und Kommunikation
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[1] Von lateinisch „maturitas“ = „die Reife“. Andere Länder wie Italien, Bulgarien, Ungarn und die slawischen Staaten verwenden ebenfalls Bezeichnungen, die auf „maturitas“ zurückgehen.
[2] Weitere Informationen über Dr. Hadinger, der Leiterin des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse in Tübingen und Wien, finden Sie hier: www.logotherapie.net/unserteam.html abgerufen am 13. 9. 2014