Projekt Inklusion: Beginn einer langen Reise

„Inklusion? Praktiziere ich doch schon seit Jahren“, meint Lehrer D. sarkastisch, „und es kostet mich enorm viel Energie, meine zahlreichen Problemschüler irgendwie in den Unterricht zu integrieren!“

Für ihn bedeutet Inklusion bereits, sich tagtäglich mit seinen schwierigen Schülern auseinandersetzen zu müssen. D. unterrichtet an einer NMS in einem Ballungszentrum und lehnt es kategorisch ab, auch noch behinderte Kinder in seine Klasse aufzunehmen.

Viele deutsche Lehrerinnen und Lehrer (und zwar zwei Drittel, erhob das Institut für Demoskopie in Allensbach im Jahr 2013, vgl. Bericht in der FAZ unten) nehmen einen ähnlich negativen Standpunkt wie D. ein, darunter auch Josef Kraus, der Präsident des deutschen Lehrerverbands, der traditionelle Werte wie das gymnasiale Leistungsprinzip hochhält, weiterhin für ein differenziertes Schulsystem eintritt und stolz darauf ist, an seiner Schule ein (!) Mädchen mit MS aufgenommen zu haben[1]. Die FAZ[2] stellte kürzlich fest, dass links orientierte Menschen eher für Inklusion eintreten, während politisch rechts Stehende „nicht unbedingt gegen Inklusion sind, aber oft dafür, die Förderschulen trotz Inklusion beizubehalten – weil unterschiedliche Lern-Niveaus als hinderlich für die Entwicklung der Schüler angesehen werden.“

Das aufwändige Vorhaben, Inklusion an den Schulen zu einzuführen, reißt tiefe Gräben in der Bildungslandschaft auf. Gemeint ist damit der gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung an unseren Regelschulen. Dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nun gemeinsam mit anderen Kindern in einer Klasse sitzen sollen, spaltet jedoch nicht nur die Lehrerschaft, sondern auch die Eltern.

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=COJyb3D_JjA]

So schreibt eine Lehrerin unter dem Pseudonym Cathrin Kurtz in der SZ, dass „weder die Politik noch manche Eltern begriffen haben, dass Gleichmacherei nicht gleich gerecht ist.“

Sie wisse nämlich aus Erfahrung, dass es „keinem Kind mit einer geistigen oder einer stark einschränkenden körperlichen Behinderung etwas bringe, wenn es im Sinne einer vermeintlichen Gerechtigkeit an eine (…) Schule kommt, wo weder die Schule noch die Lehrer auf seine Bedürfnisse eingerichtet sind.“

Diese Ansicht der bayerischen Lehrerin widerlegt allerdings eine jüngst erstellte Studie der Forschungsstelle der deutschen Kultusminister, die ergeben hat, dass Kinder mit Förderbedarf, die in einer regulären Klasse untergebracht sind, stark davon profitieren[3]. Doch nicht nur die Pädagogenschaft, sondern auch manche Eltern sind verunsichert und vertreten gegensätzliche Standpunkte. Eltern mit behinderten Kindern fürchten zum Teil, dass ihre Kinder an Regelschulen nicht mehr so gut betreut werden wie bisher.

Wiener Eltern von behinderten Kindern sind „schwer verunsichert“, weil die Caritas ihre Sonderschule in Döbling in eine inklusive Schule umbauen will[4]. Andere hingegen befürworten, dass ihre Kinder besser integriert werden sollen. Und wiederum andere befürchten, dass ihre gesunden Kinder durch die Integration von Behinderten benachteiligt werden könnten.

Immer diese Finnen!

Was hierzulande, weil es so neu, ja revolutionär ist, für hohe emotionale Wogen sorgt, gehört in Finnland freilich seit nunmehr 30 Jahren zur Tagesordnung. Denn dort hat man inzwischen fast zwei Drittel der Sonderschulen geschlossen und betreut behinderte Kinder und Jugendliche an Regelschulen intensiv und erfolgreich weiter[5].

Tatsache ist jedenfalls, dass Österreich im Jahr 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und sich damit verpflichtet hat, behinderte Menschen nicht mehr auszugliedern, sondern durch Inklusion besser in die Gesellschaft zu aufzunehmen und ihnen mehr Chancen durch Partizipation zu ermöglichen.

Viel Klarheit in diese stark polarisierende Problematik bringt das jüngst erschienene Buch von Kersten Reich mit dem Titel „Inklusive Didaktik: Bausteine für eine inklusive Schule“. Der Autor lehrt an der Universität Köln und gibt im Beltz-Verlag die Reihe „Inklusive Pädagogik“ heraus. Er kennt sich also bestens mit der Thematik aus und hat ein fundiertes, übersichtlich strukturiertes Werk verfasst, mit dem man sich als interessierter Laie einen hervorragenden Einblick verschaffen kann.

Reich betont eingangs, dass inklusive Erziehung heute ein in jeder Demokratie einklagbares Menschenrecht ist und verweist auf die UN-Konvention. Auch ist Inklusion als Prinzip an sich etwas zutiefst Demokratisches, denn durch die gelebte Toleranz werden Teilhabe und Gemeinschaft erst möglich. Doch weiß er um die beträchtlichen Schwierigkeiten, die die Einführung der Inklusion im deutschen (und österreichischen) Bildungssystem mit sich bringt.

Beide Systeme zeichnen sich besonders durch Exklusion aus, trennen wir doch an unseren Schulen bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt „die Spreu vom Weizen“. Nicht zuletzt wissen wir aber heute durch die Erkenntnisse der Hirnforschung, dass „jedes Kind hoch begabt ist“ (vgl. Gerald Hüther) und bei entsprechender Förderung seine Begabungen entfalten kann.

Reich will auf keinen Fall die Inklusion an unseren Schulen durch eine Husch-Pfusch-Aktion einführen, was manch ein/e Lehrer/in, wie auch die oben zitierte Frau Kurtz, befürchtet – sind doch der Lehrerschaft gerade in den letzten Jahren eine Menge Zusatzaufgaben aufgebürdet worden, deren Fülle und Anspruch nicht wenige im Alltag resignieren lässt.

Inklusion bedeutet bei Reich auch nicht, ein paar Lehrer/innen auf zwei, drei Fortbildungen zu schicken und so eine inklusive Schule zu begründen. Vielmehr entwirft er in seinem Buch ein klares Bild, über welch komplexen Prozess Inklusion erst entstehen kann. Letztlich handelt es sich dabei um die Verzahnung von Schulentwicklung und didaktischen Prozessen und um eine tiefgreifende Änderung aller Abläufe an den Schulen.

Gut gelebte Inklusion nach Reich verlangt z.B., Klassenzimmer und Schulen zu öffnen, neue Formen der Zusammenarbeit zu praktizieren und die inklusive Schule als offenes Zentrum in der Gemeinde zu begründen. Abgesehen von der Forderung nach einer neuen, unterstützenden Architektur – schließlich ist der Raum nach Maria Montessori ja auch als „dritter Pädagoge“ zu sehen – will Reich aber seine inklusive Didaktik als Grundlage für den innovativen Unterricht verwirklicht sehen. Sie basiert auf konstruktivistischen Elementen mit einem ganzheitlich pädagogischen Ansatz, die er um inklusive Elemente erweitert – was sich als zutiefst demokratischer Ansatz erweist!

Bildungsgerechtigkeit bedeutet für Reich „möglichst hohe Schulabschlüsse für viele zu erzielen“. Kooperation, Partizipation, kollegiale Beratung und Supervision gehören zu den Ingredienzien seines Konzepts. Als Grundlagen seiner Didaktik nennt Reich folgende zehn Bausteine, die er detailliert ausführt: Beziehungen und Teams, demokratische und chancengerechte Schule, qualifizierende Schule, Ganztag mit Rhythmisierung, förderliche Lernumgebung, Lernende mit Förderbedarf, differenzierte Beurteilung, eine geeignete Schularchitektur, eine Schule in der Lebenswelt und Beratung, Supervision und Evaluation.

Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt (Laotse)

So, wie Kersten Reich seine Vorstellungen von einer inklusiven Schule skizziert, dürfte es sich um eine sehr lange Reise handeln, weil es eben nicht darum gehen kann, nur „ein bisschen Inklusion“ zu betreiben – was als „verlorene Liebesmüh“ erscheint. In einem änderungsresistenten System, wie das die Schule einmal ist, brauchen Reformen wie diese sehr lange – und außerdem viel Geld! Seine Kritiker erinnert der Autor daran, dass Inklusion zwar hierzulande noch immer als Utopie erscheint, in anderen Ländern jedoch sehr wohl gelebt wird – wenngleich auch nirgendwo perfekt.

Trotzdem wundert sich der Wissenschaftler darüber, welch großer Anstrengungen es in Deutschland bedarf, um nur einmal die ersten Schritte in Richtung Inklusion zu setzen. Letztlich ist eine ernst gemeinte Umsetzung von Inklusion ein tiefgehender Prozess, der mit Sicherheit bedingen wird, dass an der traditionellen Schule kein Stein mehr auf dem anderen bleiben wird. Doch ist nicht gerade das in der aktuellen Diskussion eine spannende Perspektive?

Kersten Reich hat ein spannendes Buch nicht nur über inklusive Didaktik verfasst, sondern ausgehend vom ganzheitlichen Ansatz ein umfangreiches, hervorragend strukturiertes pädagogisches Konzept vorgestellt, das beschreibt, in welche demokratische Richtung sich Schule entwickeln muss, um den Anforderungen dieses jungen Jahrhunderts gerecht zu werden. Fazit: ein absolut lesenswertes Werk – nicht nur für Pädagoginnen und Pädagogen!

 

Das Buch

Reich, Kersten; Inklusive Didaktik: Bausteine für eine inklusive Schule; Verlag: Beltz, Weinheim und Basel; 2014; ISBN: 978-3-407-25710-9

 Vgl. zum Thema „Inklusion“ auch das brandneue Dossier des Deutschen Bildungsservers!

Das  Dossier des Deutschen Bildungsservers bietet eine nach allgemeinen Gesichtspunkten sowie Bildungsbereichen gruppierte Informationssammlung, die in Anlehnung an den „Bildungsbericht für Deutschland 2014“ zunächst auf den Aspekt der Behinderung fokussiert.
http://www.bildungsserver.de/Inklusion-10987.html

Interessant für
Allgemein, Pädagogik, Psychologie

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[1] Vgl. Artikel im Spiegel vom Mai 2014: http://goo.gl/balBHK abgerufen am 25. 5. 2014

[2] Vgl. FAZ: http://goo.gl/QbD3J0

[3] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom Mai 2014: http://goo.gl/0jHyA9 abgerufen am 25. 5. 2014

[4] Vgl. Artikel im Standard vom Mai 2014: http://goo.gl/V0t7fP abgerufen am 25. 5. 2014

[5] Vgl. www.zeit.de/2013/41/finnland-abschaffung-sonderschulen abgerufen am 25. 5. 2014