Der Hirnforscher Gerald Hüther und der Journalist Uli Hauser lernten einander bei einem spannenden Projekt kennen: Sie begleiteten elf Kinder, die am Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) litten, zwei Monate lang über den Sommer auf einer Alm. Kinder, die dieses Problem haben, funktionieren nicht wie andere Kinder, reagieren stärker auf Reize, sind „Störenfriede“, nerven sich und andere und fallen deswegen in der Schule häufig negativ auf.
Während des Sommers auf der Berghütte lebten die Knaben unter einfachsten Umständen, ohne elektronische Geräte, spielten und bastelten miteinander und übernahmen außerdem verschiedenste Aufgaben, wie zB das Melken der Kuh oder die Betreuung der umliegenden Wanderwege. Mit dem Ergebnis, dass sie lernten, miteinander zu kommunizieren, sich in einer Gemeinschaft zu behaupten und Konflikte zu lösen. So fanden sie Zugang zu ihren Gefühlen, lernten ihre Stärken und Schwächen kennen und gewannen Zuversicht und Selbstvertrauen.
Dieses Erlebnis in den Bergen inspirierte Hüther und Hauser dazu, ihr Buch „Jedes Kind ist hoch begabt“ zu schreiben. Gleich vorneweg: es ist ein leicht lesbares Buch mit sehr vielen klugen Erkenntnissen und Aussagen geworden und der stets spürbaren Aufforderung, doch endlich die Verhältnisse zu ändern. Sie radikal und rasch zu ändern und zu „Wut-Eltern“ zu werden, die sich gegen die Verhältnisse wehren. „Mit aller Macht. Wie wir es als Kinder bereits einmal gekonnt haben.“ (S. 173)
Denn, so Hüther, jedes Kind bringe viele Talente und Begabungen mit, nur würden diese heute oft verkümmern, weil Eltern und Schule sie nicht fördern.
Der Buchtitel „Jedes Kind ist hoch begabt“ soll nicht bedeuten, dass jedes Kind Anlagen zu einem Genie hat, sondern dass es als Individuum einzigartig ist und bereits im Mutterleib ein einzigartig geformtes Gehirn mit vielen neuronalen Vernetzungen gebildet hat. Entdeckerfreude, Gestaltungslust, Offenheit und Beziehungsfähigkeit bringen alle Kinder mit, und durch eine liebevolle Erziehung, die einlädt, ermutigt und inspiriert, können Kinder vielfältigste Kompetenzen ausbilden. Eine Erziehung durch Dressur, Belohnung und Strafe hat den gegenteiligen Effekt.
Wie in seinen Vorträgen plädiert der Hirnforscher dafür, unseren Kindern mehr Zeit, (Frei)Raum und Verantwortung zu geben und ihnen damit die Möglichkeit bieten, ihre Begabungen zu entfalten. Ihnen Zeit zu schenken heißt zB nicht, ihre Freizeit mit einem ausgeklügelten Programm zuzupflastern, sondern Zeit mit ihnen zu verbringen und gemeinsam scheinbar „nutzlose“ Dinge tun: mit ihnen zu reden, ihnen vorzulesen und zu singen. Diese Tätigkeiten haben den günstigsten Einfluss auf Kinderhirne, Hüther nennt sie „Superdoping“ (Seite 102 ff).
Ein anderes wichtiges Thema, das dem Autor am Herzen liegt, ist, den Kindern Langeweile zu ermöglichen, die erst Kreativität ermöglicht. Doch die medialen Welten der Gegenwart erlauben keine Langeweile, weil Computer, Fernsehen und Smartphones beinahe in jedem Haushalt vorhanden sind.
Der Leser spürt die tiefe Sorge der beiden Autoren und das Bemühen, Missstände aufzuzeigen und sie zu ändern. Doch wie soll das geschehen? Reicht es denn, in Anlehnung an „Anonymus“ zu „Wut-Eltern“ zu werden? Die Autoren schreiben, dass die Geschwindigkeit unseres digitalisierten und vernetzten Lebens einem „Stresstest“ gleiche. Schuld daran seien der technische Fortschritt, der Konsum und der soziale Wandel. Wie aber können wir dagegen auftreten und die Verhältnisse ändern? Antworten zu diesen Fragen finden wir im Buch – verständlicherweise – nicht.
Seit geraumer Zeit fordert Hüther ein grundlegendes Umdenken im Bildungsbereich und kritisiert vehement die frühe Selektion und die veralteten Vorstellungen von der Entstehung von Begabung und Intelligenz. In der Schule gehe es nur um den Kampf um Noten, nicht aber um den eigentlichen Bildungsauftrag: unsere Kinder zu mündigen Bürgern mit größtmöglicher Partizipations- und Gestaltungskompetenz zu erziehen. (S. 174 ff.)
Und wie Erich Kästner in seiner „Ansprache zum Schulbeginn (1953)“ prangert Hüther am Schulsystem an, dass Kinder wie „Spalierobst“ behandelt und unsanft „vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation[1]“ befördert werden. Statt dieser Fabrik, fordert er, benötigen wir eine neue „Lern- und Beziehungskultur. In jeder Familie, in jeder einzelnen Schule.“ (S. 175)
Eine sinnvolle Forderung, die einleuchtet und auf der Ebene der Familie noch relativ einfach umzusetzen ist. Eine flächendeckende Implementierung der Hütherschen Lern- und Beziehungskultur an den Schulen erscheint in absehbarer Zeit wohl wenig realistisch und dürfte kurzfristig ein schöner Traum bleiben. Der Salzburger PISA-Forscher Günther Haider verglich vor einigen Jahren das Schulsystem ob seiner Trägheit mit einem Ozeandampfer. Jeder Richtungswechsel braucht – anders als beim Auto – geraume Zeit. Im Fall der Schule handelt es sich um Generationen.
„Jedes Kind ist hoch begabt“ ist eine leicht lesbare, informative Lektüre, populärwissenschaftlich geschrieben und umfasst 186 Seiten. Das Buch schließt mit dem Appell, selbst aktiv zu werden, denn „wie es weitergeht, bestimmen Sie. Mit dem, was Sie tun.“ Ein schöner Satz, der Hoffnung vermittelt!
Das Buch
Hüther, Gerald; Hauser, Uli, Jedes Kind ist hoch begabt, 2012, Knaus,
ISBN-10: 3813504484
Interessant für:
Allgemein, Pädagogik, Psychologie, Biologie
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[1]http://lachmagazin.wordpress.com/2008/08/04/erich-kastner-ansprache-zum-schulbeginn/ (abgerufen am 5. 1. 2013)