Stellen Sie sich vor, es gäbe keine Straßenverkehrsordnung, keine Verkehrsschilder, keine geregelten Kreuzungen usw. und – vor allem – keine Polizei, die darauf achtet, dass die Regeln eingehalten werden. Wie würde es dann wohl auf unseren Straßen aussehen? Genau! Wir würden das pure Chaos erleben!
In der Schule haben wir ebenfalls klare Regeln und Vorgaben, die bestimmen, wie das Leben dort ablaufen soll, damit Lehren und Lernen und ein sinnvolles Zusammenleben und Arbeiten möglich sind. Wie für ein Fußballspiel ein Schiedsrichter nötig ist, um unparteiisch den Spielfluss zu regulieren und etwaige Regelverstöße zu ahnden, müssen wir Lehrerinnen und Lehrer in der Schule die Führungsaufgabe übernehmen – mit allem, was dazugehört.
Durch die politischen Ereignisse in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und durch die als Reaktion darauf entstandene „antiautoritäre Erziehung“ der späten 60er Jahre ist der Begriff „führen“ über Jahrzehnte zu einem absoluten Unwort geworden – und ist es teilweise wohl immer noch. Daher umschifft man im pädagogischen Bereich diese Untiefen gerne mit Anglizismen wie „Leadership“ oder „Classroom-Management“.
Wie kann man jedoch ohne den Anspruch auf die Führungsrolle seiner Erziehungsaufgabe gerecht werden, wenn man Kindern und Jugendlichen alle Freiheiten gewährt und nur stets inspirieren und motivieren will? Ist es nicht unsere Aufgabe als Erwachsene, Kinder und Jugendliche innerhalb von klar zu definierenden Grenzen dorthin zu führen, wo sie dann selbst in der Lage sind zu entscheiden, was für sie gut und richtig ist? Freilich: Grenzen zu setzen und Nein zu sagen verlangt letztlich auch die Bereitschaft, sich immer wieder anstrengenden Konflikten zu stellen, die sich aus der unterschiedlichen Sicht der Dinge ergeben werden.
„Untauglich ist zweifellos der Versuch jener Eltern, die aus lauter Wohlwollen die Führungsrolle auf die Kinder übertragen und sich selbst zu Dienstleistenden gemacht haben, denen eigene Bedürfnisse, Werte und Grenzen vollkommen fremd zu sein scheinen“, schreibt Jesper Juul in seinem Buch „Was Familien trägt[1]“.
Fest steht, dass die Gesellschaft seit Jahren wesentlich mehr von der Schule, von uns Lehrer/innen verlangt als früher, als wir im Großen und Ganzen lediglich die Aufgabe der Wissensvermittlung innehatten. Das Berufsspektrum ist umfassender geworden und die Forderungen an den Einzelnen sind massiv gestiegen. Belastend ist für viele Kolleginnen und Kollegen auch, dass sich Schule beständig wandelt und Massenmedien und Politik zu allem Überdruss seit Jahren immer wieder dazu beitragen, das Ansehen der Lehrerschaft infrage zu stellen. Mit dem Ergebnis, dass die Autorität einer Lehrperson – anders als früher – nicht mehr a priori gegeben ist, sondern erst mühsam erarbeitet werden muss.
Wie sieht aber nun die zeitgemäße Rolle eines/r Lehrer/in aus? Bernhard Bueb[2] hat sich bereits 2008 dazu geäußert, weshalb im Bildungsbereich die lang verpönten Begriffe „Führung“ und „Disziplin“ wieder eine wichtige Rolle spielen müssen. Denn erst dadurch, und nicht durch die grenzenlose Freiheit unserer Kinder und ihre Selbstverwirklichung, können geeignete Rahmenbedingungen entstehen, die Erziehung und Bildung erst ermöglichen.
Günther Hoegg[3] beschreibt in seinem vor kurzem erschienenen Werk „Gute Lehrer müssen führen“, dass funktionierender Unterricht klare Bedingungen und Führung benötigt, „denn Lehrkräfte sind pädagogische Führungskräfte.“ Der Buchtitel impliziert, dass man eigentlich nur dann ein guter Lehrer sein kann, wenn man bereit ist, die Führungsrolle mit allen Konsequenzen zu übernehmen. Denn, so schreibt der Autor, es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man führt – oder man wird geführt! Und weil nur wenige von uns in der Jugend oder im Studium gelernt haben zu führen, können wir das durch die Lektüre des Buchs nun nachholen. Wir erfahren vom Autor auf humorvolle Art und Weise, was in der Praxis unbedingt nötig ist, damit zB „Kevin“ oder „Chantal“, die von zuhause nicht entsprechend auf das Leben in der Gemeinschaft vorbereitet wurden, unsere Führungsrolle akzeptieren und kooperieren.
Hoegg beschreibt, wie wichtig äußere Faktoren wie Kleidung, Auftreten und Stimme sind, wenn wir erstmals vor einer Klasse stehen, erklärt weiters unterschiedliche Führungsstile (den scheinbaren, den indirekten und den direkten) und nennt grundlegende Führungsqualitäten. Anhand von vielen praktischen Beispielen belegt er, wie gute Führung entstehen kann und aussehen sollte. Außerdem vermittelt Hoegg glaubhaft, wie er sich funktionierendes Zeitmanagement vorstellt. (Dass es zB reicht, „nur gute“ anstelle von perfekten Arbeitsblättern zu produzieren – denn Perfektion benötigt viel Zeit.)
Günther Hoegg hat mit diesem bemerkenswerten Buch eine wertvolle Hilfe nicht nur für angehende Lehrkräfte verfasst, die erst im Begriff sind, ihre Rolle als Lehrperson zu finden. Auch erfahrenere Kolleginnen und Kollegen, die ihre Position überprüfen und neu kalibrieren wollen, können von diesem Buch profitieren. „Gute Lehrer müssen führen“ ist ein Plädoyer dafür, Verantwortung in der Schule zu übernehmen, indem wir als Lehrer/innen kraft unserer Autorität klare Grenzen setzen und Vorgaben festlegen zum Wohl der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Denn nur so kann Schule funktionieren!
Interessant für:
Allgemein, Psychologie, Pädagogik
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[1] Juul, Jesper, Was Familien trägt. Werte in Erziehung und Partnerschaft. Ein Orientierungsbuch, Kösel, 2012, ISBN: 978-3-466-30708-1
[2] Quelle: http://tinyurl.com/b4modyg
[3] Hoegg, Günther, Gute Lehrer müssen führen. Mit Schiedsrichterkarten für Ihren Unterricht, Beltz 2012, ISBN 978-3-407-62819-0