Der spätere Verhaltensforscher Konrad Lorenz half als Knabe einmal seinem Vater bei der Gartenarbeit. Er fand einen Käfer, zeigte diesen seinem Vater und fragte ihn, um welchen Käfer es sich denn handle. Der antwortete seinem Sohn, dass er das leider selber nicht wisse, dass er aber in seinem Arbeitszimmer im Bücherregal unten rechts ein Buch über Käfer stehen habe, in dem Konrad alle nötigen Informationen finden könne. Also geht der Bub zum Bücherregal und blättert auf der Suche nach dem entsprechenden Käfer so lange in dem Buch, bis er anhand der Bilder genau weiß, dass es sich bei diesem Exemplar um einen Junikäfer handelt. Mit dieser neu gewonnenen Erkenntnis geht er zurück in den Garten zu seinem Vater und erzählt ihm aufgeregt vom Ergebnis seiner Recherche. Der wiederum bedankt sich seinem Sohn und bittet ihn, noch einmal ins Zimmer hinaufzugehen und nachzuschlagen, wie denn der lateinische Fachbegriff für dieses Insekt laute.
Gleich zu Beginn seines Referats erzählte der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther diese Begebenheit aus Konrad Lorenz’ Biografie, die ihn tief beeindruckt hat. Denn er ist überzeugt, dass Lernen nur auf diese fragende Art und Weise, die durch den Aha-Effekt zu positiven Resultaten im Gehirn führt, funktionieren kann. Heute sei es aber leider so, dass viele Eltern ihren Kindern alles erklären und ihnen nicht die Gelegenheit bieten, sich das Wissen selbst – in „fragendem Modus“ – anzueignen. Der Hirnforscher nennt jene Väter, die ihren Kindern alles im Detail erklären, „narzisstische Selbstdarsteller“, die damit ihren Sprösslingen nicht helfen würden, sondern ihnen „reines Gift“ verabreichen.
Kinder brauchen viel Raum zum Spielen – und zwar fürs freie Spiel, betonte der Wissenschaftler, bei dem sie von Erwachsenen nicht beobachtet werden sollen, um zu erkunden, was es in ihrer Welt alles gibt und was alles geht. Denn damit wird das Hirn „gedüngt“ und schafft neue Verknüpfungen. An einem Tag können Kinder, ausgelöst durch entdeckendes Lernen bzw. durch ihre Aha-Erlebnisse, zwischen 50 bis 100 rauschartige Zustände im Hirn haben. Das freie Spiel, so Hüther, ist die wichtigste und schwerste Arbeit der Kinder, doch haben viele aufgrund des intensiven Freizeitförderprogramms, das ihnen die Eltern zumuten, kaum mehr Gelegenheit dazu. Dazu kommt, dass Kinder in ihrer Entwicklung im Gegensatz z u früher viel zu sehr eingeengt werden und deswegen nur mehr wenig Raum haben. Der Radius, so Hüther, in dem sich Kinder früher von ihren Eltern wegbewegten, war sechs Kilometer, während sich heute ein Kind im Durchschnitt nur mehr 300 Meter von seinen Eltern entfernt!
Die Hirnforschung belegt, dass alle Kinder mit einem riesigen Potenzial, ja hochbegabt zur Welt kommen, denn unser Hirn könnte z.B. auch sechs Arme und Beine bewegen. Doch seien es gerade die Erfahrungen in den ersten Lebensjahren, die unsere Kinder prägen und darüber entscheiden, wie ein Kind später einmal sein Hirnpotenzial nützt oder nicht.
„Und dann schicken wir sie in das System Schule!“
Äußerst kritisch äußerte sich Hüther über die Schule, die er als „Wegdrückersystem“ bezeichnet, denn ihre Hauptaufgabe sei die Selektion. Seiner Meinung nach sollten die Curricula auf ein Fünftel reduziert werden, denn zwei, drei Jahre nach der Matura wisse ohnehin kaum jemand noch mehr als 20 Prozent des Lernstoffs. Würde man die Curricula massiv ausmisten und auf Wesentliches reduzieren, hätte man in der Schule viel mehr Zeit für wichtige Dinge.
Neugier und Entdeckerfreude, die jedes Kind habe, gehen nach Hüthers Sicht leider dort verloren, wo wir die Kinder bilden wollen: in den Schulen. Denn die meisten Lehrer/innen seien zwar Fachleute, würden aber nicht die notwendigen Fähigkeiten aufweisen, um Kinder und Jugendliche inspirieren und motivieren zu können. Daher hat der Neurobiologe einen Lehrgang zur Ausbildung zum „Potenzialentwicklungscoach“ entwickelt, den er in Österreich an einigen Pädagogischen Hochschulen anbieten lassen will.
Prof. Dr. Gerald Hüther hielt dieses Referat im Rahmen der „Aha-Konferenz“ an der VHS Donaustadt, Wien, April 2012
Weitere Informationen
www.gerald-huether.de abgerufen am 12. 6. 2012
http://sinn-stiftung.eu abgerufen am 12. 6. 2012
Interessant für:
Allgemein, Psychologie, Philosophie, Biologie, Pädagogik
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