450 interessierte Anwesende füllten am 21.1.2012 die große Aula der Innsbrucker SOWI bis auf den letzten Platz, denn Jesper Juul, der dänische Autor und Fachmann für Familienfragen, war als Referent zum „Kinder und ihre Aggressionen“ angekündigt.
Gleich zu Beginn seines Vortrags wunderte sich Juul darüber, dass im europäischen Raum seit ein paar Hundert Jahren zwar Männer, nicht aber Frauen und Kinder aggressiv sein dürfen. Seine Überzeugung ist nämlich, dass die Aggression an sich nichts Negatives ist, sondern als menschliches Grundgefühl genau wie Liebe, Trauer und Sexualität eine wichtige Funktion in unserem Leben habe und nicht unterdrückt werden dürfe. Vielmehr müssen wir danach trachten, in unserer Kindheit und Jugend einen guten Umgang damit zu finden. Und das dauere im Normalfall rund 14 bis 15 Jahre. „Denn ohne freien Zugang zur Aggression sind wir nicht in der Lage zu verführen oder auch zu gutem Sex, können unsere Ziele nicht formulieren und verfolgen, oder konkurrieren, uns und unser Leben zu verteidigen und alternative Lebensweisen zu schaffen.“
Jesper Juul (Quelle: Wikipedia)
Juul plädiert für einen neuen, positiven Zugang zu unseren aggressiven Gefühlen, die uns auch gesunde Energie bringen. Aber dafür benötigen wir entsprechende Bedingungen für die Entwicklung sowie Raum und Zeit: „Es braucht eine Kindheit lang, um zu lernen, aggressive Gefühle zu integrieren und sie konstruktiv und kreativ zu nutzen. Wenn wir eine Welt ohne Krieg haben wollen, müssen wir dafür sorgen, dass unsere Kinder spätestens mit 15,16 gelernt haben, mit ihren Aggressionen umzugehen.“ Die Aufgabe der Eltern sei es, ihre Kinder dabei zu unterstützen, eine „persönliche Sprache“, also einen adäquaten Umgang mit der Aggression, zu entwickeln!
Und diese Kompetenz sollen sie im geschützten Bereich der Familie (und in der Schule) erwerben können. Diese Ansichten Juuls sind konträr zu jenen von Bernhard Bueb, dem ehemaligen Leiter der Eliteschule Salem, der in seinem Werk „Von der Pflicht zu führen“ postuliert, dass es für ihn eine Grundvoraussetzung sei, in der Familie oder in der Schule ein klares Ja zur „Machtfrage“ zu sagen. Auch muss man Buebs Meinung nach wissen und akzeptieren, dass ein Gefälle besteht oder vielmehr bestehen muss zwischen dem, der führt, und dem, der geführt wird. Juuls Credo hingegen lautet „Beziehung statt Erziehung“ und seine Ansicht ist, dass es nicht sinnvoll sei, Kinder mit genau definierten Regeln und Verboten zu erziehen, sondern ihnen vor allem mit Respekt zu begegnen, denn nur dadurch bekomme man auch wieder Respekt zurück.
Juul weiß, dass im Erwachsenenleben Probleme entstehen, wenn Kinder ihre Aggressionen nicht ausleben dürfen. Seiner Meinung nach will uns ein aggressives Kind vor allem sagen: „Hallo, es geht mir nicht gut in meiner Realität… Könnte bitte jemand kommen und mir helfen herauszufinden, was ich machen soll?“ Der Familientherapeut warnt Eltern auch nachdrücklich davor, sich bei Streitigkeiten unter Geschwistern einzumischen, denn er ist überzeugt, dass sich die meisten ohnehin unendlich lieben. Greifen die Eltern jedoch in die Konflikte ihrer Kinder ein, erzeuge das bei den Sprösslingen den Eindruck, dass die Eltern ihnen nicht zutrauen, ihre Dinge selber zu regeln.
Jesper Juul stellte in seinem Vortrag ein sehr menschliches und durchaus überzeugendes Konzept vor, wie man Aggressionen begegnen soll und warum ein guter Umgang damit sehr wichtig ist. Doch auch nach seinem gelungenen Referat ist es für den eher skeptischen Laien schwierig, sich zu orientieren und zu entscheiden, ob man seine Kinder nun nach Juuls oder nach Buebs Methode begleiten bzw. erziehen will – oder vielleicht doch besser eine Mischung aus beiden wählt?
Weitere Informationen
http://de.wikipedia.org/wiki/Jesper_Juul, abgerufen am 28. 2. 2012
http://www.familylabs.de, abgerufen am 28. 2. 2012
Ein Gespräch mit Bernhard Bueb und Jesper Juul:
www.zeit.de/2011/44/C-Inteview-Bueb-Juul, abgerufen am 28. 2. 2012
Film zum Thema: „Gott des Gemetzels”, Regie: Roman Polanski; mit Jodie Foster, Christoph Waltz u.a.
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