Das Geschäft mit der Nachhilfe

Peter ist neun, besucht die vierte Klasse einer städtischen Volksschule und seine Eltern wollen, dass er im nächsten Jahr unbedingt das Gymnasium besuchen darf. Damit er den dafür nötigen Notenschnitt erreichen kann, besucht er bereits seit mehreren Monaten zweimal pro Woche ein Nachhilfeinstitut.

Tina ist 13 und ungemein ehrgeizig. Sie besucht die Unterstufe eines Gymnasiums und will sich keinesfalls mit ihrer Englisch-Semesternote, einem „Gut“, abfinden und bis Ende des Schuljahres unbedingt ein „Sehr gut“ erreichen. Tinas Eltern unterstützen das Vorhaben und suchen für ihre Tochter einen Nachhilfelehrer, der mit dem Mädchen einmal pro Woche zwei Stunden übt und ihm hilft, das in Schule Gelernte besser zu verstehen.


Foto: Jeremy Wilburn, Creative Commons [1]

Zwei Kinder, zwei unterschiedliche Motive, um die Schulnoten zu verbessern und ein mehr oder weniger wichtiges Ziel zu erreichen. Zwar arbeitet ein Großteil aller Eltern am Nachmittag als Nachhilfelehrer der eigenen Kinder, doch oft reichen ihre Kenntnisse nicht mehr aus. Um den Kindern gut helfen zu können, liegt die Schulzeit zu lange zurück. Nicht selten wollen die Sprösslinge auch nicht mit ihrer Mutter oder ihrem Vater lernen. Um den damit häufig verbundenen Konflikten auszuweichen bzw. um sie auszulagern, suchen viele Eltern notgedrungen externe Unterstützung und engagieren Student/innen, Lehrer/innen oder Hilfe über eine Nachhilfefirma. Die Schulphase, in der übrigens der größte Bedarf an Nachhilfe herrscht, sind die ersten beiden Jahre der Oberstufe, insbesondere an den berufsbildenden höheren Schulen, schreibt Karl Heinz Gruber in der Zeit[2]. Denn dort kämpfen besonders die Abgänger/innen der Hauptschulen mit den ungewohnt hohen Anforderungen, anderen Methoden und dem für sie neuen Leistungsdruck.

Nachhilfe zu nehmen, um ein drohendes „Nicht genügend“ abzuwenden, ist freilich kein modernes Phänomen. Auch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gab es sie bereits, wie Friedrich Torberg das so eindrucksvoll in seinem „Schüler Gerber“ belegt. Zwar lehnt sein Protagonist Kurt Gerber zuerst die Unterstützung eines Nachhilfelehrers ab, nimmt aber dann doch die Hilfe von zwei Mitschülern an, um in Mathematik zu bestehen. Trotzdem scheitert er und endet tragisch.

Heute ist es so, dass einerseits die Schüler/innen, die externe Hilfe in Anspruch nehmen müssen, viel jünger sind als früher. Außerdem können offenbar auch wesentlich mehr Kinder und Jugendliche als früher ihren umfangreichen Lernstoff nur mehr mithilfe einer externen Betreuung bewältigen. Was sich zudem noch geändert hat, ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Nachhilfe. Während früher nicht viel über Nachhilfe geredet wurde, weil sie oft als peinlich angesehen wurde und einen unangenehmen Beigeschmack hatte, inserieren heute Nachhilfeinstitute sehr erfolgreich in vielen Medien und auf Plakatwänden. Gelegentlich entsteht auch beim Gespräch mit manchen Eltern der Eindruck, dass die Nachhilfe wie Turnschuhe, Markenbekleidung und Zahnspangen zu einem Statussymbol geworden ist, da man damit nach außen demonstrieren kann, dass man es sich ja leisten kann, sein Kind regelmäßig vom renommierten Institut XY betreuen zu lassen.

 

Der Preis für eine bessere Note

Während es bei privater Nachhilfe meist nur eine mündliche Übereinkunft, aber keine Vertragsbindung gibt und die Stunden einzeln bezahlt werden, sieht der Sachverhalt bei den Instituten anders aus, denn dort ist die Dienstleistung nicht selten nur im Paket zu kaufen. Die Lernbetreuung durch Nachhilfeinstitute hat sich in den letzten Jahren zu einem lukrativen Geschäftsmodell gemausert und in größeren Orten bietet heute ein gutes Dutzend Firmen seine Dienste an. Die dort oft auf Honorarbasis angestellten Betreuer/innen verdienen mit ihrer Arbeit allerdings wesentlich weniger als jene, die per Annonce in den Zeitungen ihre Dienste anbieten. Die Kosten für eine private Nachhilfestunde liegen derzeit zwischen € 15 und € 35 und hängen ab vom Alter der Kinder und der Qualifikation des/r Betreuenden.

Waren es im Jahr 2003 noch rund 50 Millionen Euro, die Österreichs Eltern für die zusätzliche Förderung ihrer Kinder ausgaben, stieg dieser Betrag im Jahr 2011 auf sage und schreibe 127 Millionen Euro![3] Laut einer von der Arbeiterkammer in Auftrag gegebenen Ifes-Umfrage (2011) waren dabei die Wiener Eltern mit 866 Euro pro Kind im Jahr am spendierfreudigsten, während man am wenigsten im Bundesland Salzburg (566 Euro) dafür ausgab. Etwa 20% bis 30% unserer Schüler/innen nehmen Nachhilfe in Anspruch, laut AK-Studie bekommen jedoch geschätzte 70.000 Kinder keine Nachhilfe, da sich ihre Eltern das nicht leisten können.

Die „Wiener Lerntafel“[4] ist in diesem Zusammenhang ein besonders lobens- und unterstützenswertes Ausnahmeprojekt.  Sie wurde vor rund einem Jahr gegründet und bietet Kindern zwischen sechs und vierzehn Jahren, die aus ärmeren Familien kommen, Gratisnachhilfe in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik an. Die „Lerntafel“ wird überwiegend über Sponsoring finanziert, die Nachhilfebetreuer/innen arbeiten dort ehrenamtlich. Es wäre wünschenswert, würde sich dieses Konzept auch in anderen Bundesländern verwirklichen lassen.

Die Frage ist, was die Schule denn unternehmen kann, um den offensichtlich enormen Bedarf an Nachhilfe einzudämmen und nicht noch mehr potenzielle Kunden der „Nachhilfeindustrie“ zuzuführen. Ein Schritt in die richtige Richtung könnte sein, den schulischen Bildungs- und Fächerkanon kritisch zu hinterfragen und ihn zu adaptieren. Eine deutliche Entlastung dürfte wohl auch die letztes Jahr beschlossene Entschärfung der Note „Nicht genügend“ mit sich bringen sowie die Bemühungen, den Unterricht zu modularisieren und damit die Eigenverantwortung der Schüler/innen zu stärken.

„Mein Kopf ist voll“, schrieb die 16-jährige Yakamoz Karakurt[5] über ihre Schulprobleme in einem beeindrucken Leserbrief im August 2011. „Ich gehe in die 9. Klasse eines Hamburger Gymnasiums und habe ein Problem: Ich habe kein Leben mehr!“ Trotz guter Noten bedrückt sie die Fülle des Lernstoffs sehr und nimmt ihr die Freude am Leben, weil sie außer fürs Lernen keine Zeit für irgendwelche Hobbys und sonstigen Dinge in ihrer Freizeit hat und wesentlich mehr arbeitet als Erwachsene. Wie muss sich erst dann ein Kind fühlen, das Jahr für Jahr kämpfen muss, um wieder den Aufstieg in die nächste Klasse erfolgreich zu bewältigen?

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